alt

«Interprofessionalität wurde schnell unverzichtbar»

Ein Gespräch mit dem Gründungsmitglied, Ehrenmitglied und ehemaligen Präsidenten der SGI PD Dr. med. Peter Carl Baumann über die Anfänge der Intensivmedizin in der Schweiz und die Gründung der Fachgesellschaft.

November 2021

SGI: Guten Tag Herr Dr. Baumann. Vor 50 Jahren wurde die SGI gegründet. Können Sie sich erinnern, wo Sie zu dieser Zeit waren?
Peter C. Baumann: 1972 war ich Oberarzt an der medizinischen Klinik am Universitätsspital Zürich und zuständig für die klinische Kardiologie. Hierzu gehörte damals auch die Intensivstation, die 1966 gegründet wurde. Sie bestand aus lediglich vier Betten. 1970 wurde ich Leiter dieser Intensivstation, war aber weiterhin Oberarzt an der medizinischen Klinik. Diese nebenamtliche Tätigkeit in der Intensivmedizin war damals typisch.

Wie muss man sich eine Intensivstation zu dieser Zeit vorstellen?
Die damaligen Intensivstationen haben mit den heutigen nur wenig zu tun. Unsere Intensivstation war wie gesagt noch keine eigenständige Einheit. Zudem waren auch die Geräte, die zur Verfügung standen, – sagen wir mal – eher «einfach». Wir verfügten zwar schon über Beatmungsgeräte, diese waren aber viel weniger leistungsfähig als es die heutigen Modelle sind. Die intensivmedizinische Technik musste sich zusammen mit dem Fach erst noch entwickeln.

Wie muss man sich die intensivmedizinischen Behandlungen damals vorstellen? Was gab es für Möglichkeiten?
Mit moderner Intensivmedizin ist das nicht zu vergleichen. Wir konnten die Herzfrequenz und den Blutdruck messen und auch die Atmung überprüfen. Das war mit unserem klinischen Wissen gut machbar. Andere Tests waren da viel schwieriger.

Inwiefern?
Die Messung des Blutsauerstoffs etwa war eine ziemliche Herausforderung. Man musste arterielles Blut entnehmen und mit der Probe ins Lungenfunktionslabor gehen, das auf einem anderen Stock des Spitals lag. Dort wurde der Blutsauerstoff mit einer komplizierten Apparatur gemessen und die Werte wurden zurück auf die Station gebracht. Die kontinuierliche, automatisierte Messung des Blutsauerstoffs kam erst viel später.

Können Sie die Patientinnen und Patienten beschreiben, die Sie damals auf der Intensivstation behandelten?
Der Grossteil der damaligen Patientinnen und Patienten kam nach einem Herzinfarkt zur Überwachung zu uns auf die medizinische Intensivstation. Monitore kamen gerade erst auf und waren eine Seltenheit. Wir hatten deshalb nicht für jede Patientin und jeden Patienten einen eigenen. Zudem traten immer wieder technische Probleme auf. Das hat die Überwachung natürlich nicht gerade vereinfacht.

Welche Vorteile entstanden aus der Behandlung dieser Herzinfarkt-Patientinnen und -Patienten auf der Intensivstation im Vergleich zur Bettenstation?
Der wohl grösste Erfolg war die schnelle Reduktion der Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt durch die engmaschige Überwachung und die Defibrillation, die bei wiederauftretenden Herzrhythmusstörungen durchgeführt wurde. Auf der Bettenstation wurden solche Rhythmusstörungen häufig gar nicht entdeckt. Einige Patientinnen und Patienten wurden deshalb bewusstlos oder sogar tot aufgefunden. Auf der Intensivstation konnten wir sie besser überwachen und meistens sofort reagieren, falls es ein Problem gab.

Wie muss man sich ein intensivmedizinisches Behandlungsteam zu dieser Zeit vorstellen?
Das Behandlungsteam bestand aus Ärztinnen, Ärzten und Pflegefachpersonen. Aber natürlich war damals noch niemand so spezialisiert wie heute, Weiterbildungen in Intensivpflege kamen erst später auf. Die Behandlungsteams waren ausserdem viel kleiner, Pflegefachpersonen wurden von der medizinischen Klinik in einem Turnus der Intensivstation zugeteilt. Auch ein 24-Stunden-Betrieb war damals nicht möglich. Die Pflegenden kamen am Morgen auf die Station, hatten am Mittag eine lange Pause und kamen am Nachmittag wieder zur Arbeit. Wenn es über den Mittag nicht anders ging, musste jemand aus dem Notfall ins sogenannte «Schwesternhaus» rennen, in dem viele der Pflegefachpersonen wohnten, und jemanden aus der Pause zurückholen.

Das klingt nach einer herausfordernden Zusammenarbeit.
Zu Beginn waren bei uns einige Pflegefachpersonen skeptisch, was die Anwendung der technischen Geräte und die invasive Messung von Blutdruck und anderen Parametern anbelangt. Sie mussten sich das Wissen und die Fähigkeiten, mit der neuen Technik umzugehen, ja erst aneignen. Diese anfängliche Skepsis wich dann aber rasch einer Begeisterung, als man merkte, dass man Patientinnen und Patienten helfen kann, die auf einer Bettenstation höchstwahrscheinlich verstorben wären. Das hat alle ungemein motiviert und die Zusammenarbeit auf der Station sehr positiv beeinflusst. Interprofessionalität wurde schnell unverzichtbar für uns alle. Wer nicht teamfähig war, eignete sich also schon damals nicht für die Arbeit in der Intensivmedizin.

Können Sie noch ein wenig auf die Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte eingehen?
Auch das ärztliche Fachwissen zur Intensivmedizin musste sich erst noch entwickeln, die wissenschaftliche Grundlage erst noch geschaffen werden. Es gab erst wenige wissenschaftliche Publikationen, vor allem zur Behandlung von Polio-Patientinnen und -Patienten und ihrer künstlichen Beatmung. Die Polio-Epidemie in den 1950er Jahren war ja eines der ausschlaggebenden Ereignisse für die weltweite Entstehung von Intensivstationen. Aus heutiger Sicht war sicher vieles experimentell, vielleicht sogar etwas chaotisch. Aber das sind solche Anfänge meistens. Anders wäre es wohl auch gar nicht möglich gewesen, Fortschritte zu machen und ein neues medizinisches Feld zu entwickeln.

Welche Entwicklungen aus dieser frühen Zeit der Intensivmedizin würden Sie zusammenfassend als die wichtigsten Meilensteine bezeichnen?
Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit ist meiner Meinung nach die folgende: Qualitativ hochwertige Intensivmedizin erfordert Personal, das eigens dafür ausgebildet wird. Ganz wichtig war aber sicherlich auch die Erkenntnis, dass man für eine effektive Intensivbehandlung nicht einfach Patientenzimmer zu Intensivstationen umbauen kann. Nein, gute Intensivmedizin benötigt eine eigene Station, einen eigenen Bereich mit einer spezifischen Ausrüstung.

Was hat zur Gründung der SGI im Jahr 1972 geführt? Können Sie die damaligen Entwicklungen für uns Revue passieren lassen?
Erste Gespräche über die allfällige Gründung einer Fachgesellschaft fanden 1971 statt, vor allem unter Vertreterinnen und Vertretern der inneren Medizin. Man hat dann aber relativ schnell festgestellt, dass auch andere Fächer involviert werden sollten, die in den Spitälern mit der Intensivmedizin in Kontakt kommen, also etwa die Anästhesie, die Chirurgie und die Pädiatrie. An diesen Gesprächen wurden ganz grundsätzliche Fragen erörtert, die aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig töricht wirken, also zum Beispiel, ob es Intensivmedizin überhaupt braucht und ob dafür eine eigene Station notwendig ist. Damals war man sich da aber gar nicht so einig. Es war jedoch eine sehr kluge Entscheidung, das «Projekt SGI» interdisziplinär anzugehen und viele angrenzende Disziplinen zu involvieren. Dadurch haben die SGI und auch die Intensivmedizin schon ziemlich früh eine breite Unterstützung erfahren. Später wurden dann regelmässig Fachgesellschaften anderer Disziplinen zu Jahrestagungen der SGI eingeladen.

Wo lagen nach der Gründung weitere Schwerpunkte der Fachgesellschaft?
Der Austausch zwischen den Intensivstationen der Schweiz, den die SGI etwa durch ihre Tagungen vereinfacht hat, war sicher von Beginn an wichtig. Ein bedeutendes Projekt war aber auch die Entwicklung eines Fähigkeitsausweises für Pflegefachpersonen. Entsprechend ist es auch kein Zufall, dass die SGI einige Jahre nach der Gründung die erste Fachgesellschaft in der Schweiz war, die Pflegefachpersonen als ausserordentliche Mitglieder aufgenommen hat.

Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Erfolge der SGI in ihrer bisherigen Geschichte?
Gibt es etwas, dass Sie der SGI zu ihrem 50-jährigen Jubiläum mit auf den Weg geben möchten?
Ich wünsche mir für die SGI und die Intensivmedizin, dass Sie den positiven Geist der interprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit auf und zwischen den Intensivstationen weiterhin fördert. Diese zeichnet die Intensivmedizin gewissermassen aus und ich bin mir sicher, dass die Intensivmedizin damit viele Herausforderungen erfolgreich bewältigen wird.

PD Dr. med. Peter Carl Baumann

P.C. Baumann (rechts) gemeinsam mit Harald Grossmann (links) im März 2022 bei einem Besuch im Generalsekretariat der SGI in Basel.